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Der denkende Rollstuhl

 

Bremer Informatiker lassen "Rolland" seine Umgebung selbst erkunden

Eine Wohnung wie unzählige andere in Deutschland: zwei Zimmer, Küche, Bad. Erst auf den zweiten Blick fallen die breiten Türen auf. Das Waschbecken ist niedriger als gewohnt genau wie die Regale im Wohnzimmer. Alles ist auf die Bedürfnisse eines Rollstuhlfahrers zugeschnitten. Gummi reifen quietschen auf dem Linoleumboden. Um die Ecke kommt ein Rollstuhl ohne Fahrer. Wie von Geisterhand gelenkt, bewegt er sich durch den Flur in die Küche. Das Vehikel wendet eigenständig, weicht dabei einem Putzeimer aus. Weder Magie noch Fernsteuerung sind hier im Spiel: Der Rollstuhl findet selbst seinen Weg.

Diese Szene ist keine Zukunftsvision, sondern gehört womöglich bald zum Alltag von Schwerstbehinderten. Am Technologiezentrum Informatik der Bremer Universität entwickelt eine Forschergruppe einen "denkenden" Rollstuhl - von seinen Machern liebevoll "Rolland" genannt. Mit nur einem Knopfdruck soll es möglich sein, das Gefährt innerhalb der Wohnung von einem Raum in den anderen zu manövrieren. "Vor allem Menschen mit schwersten Behinderungen, die rund um die Uhr von einem Pfleger betreut werden müssen, können wieder mobil sein", meint Professor Bernd Krieg-Brückner, der das Projekt betreut.

Um seine Umwelt wahrzunehmen, ist "Rolland" mit elektronischen "Sinnesorganen" ausgestattet: Sensoren dienen als Augen und als Ohren. Ultraschall- und Infrarotsensoren senden für den Menschen nicht wahrnehmbare Schall- beziehungsweise Lichtwellen aus. Aus der Zeit, die die Wellen brauchen, um von einem Hindernis reflektiert zu werden, errechnet "Rolland" seinen Standort.

Neuronales Netz lernt aus Fehlern

Als "Gehirn" dient ein lernfähiger Rechner, im Fachjargon "neuronales Netzwerk" genannt. Das Gerät ist so programmiert, daß es seine Umgebung selbst kennenlernen kann. Hat der Rollstuhl einmal die Wohnung des Behinderten erforscht, findet er durch nur einen Knopfdruck sein Ziel. "Rolland" wird regelrecht trainiert - ähnlich wie ein Hund, der zum "Stöckchen holen" abgerichtet wird. Registrieren beispielsweise die Sensoren des "Rolland", daß er gegen einen Blumentopf gefahren ist, wird dies gespeichert und "Rolland" weiß für die Zukunft: "Gegen diesen Blumentopf zu fahren, gehört sich nicht." Er lernt aus seinen Fehlern.

Kennt sich Rolland einmal in seiner Umgebung aus, sind auch bewegliche Hindernisse keine Gefahr. Läuft etwa plötzlich ein Kind in die Fahrbahn, so stoppt das Gefährt rechtzeitig ab. Krieg-Brückner: "Ständig mißt der Rechner neue Daten von der Umgebung und verarbeitet sie. Das System arbeitet in Echtzeit, was bedeutet, daß zwischen der Messung der Daten und der Reaktion des Rollstuhls nur sehr wenig Zeit vergeht." Also: Kein Risiko, wenn unvorhersehbare Hindernisse auftauchen.
Auch eine weitere Schwierigkeit für Rollstuhlfahrer können die Bremer Forscher beheben. "Die Steuerung eines Elektrorollstuhls ist sehr empfindlich", erklärt Krieg-Brückner. Bei der Entwicklung des "Rollands" entstand ein Fahrassistent, der bei der Navigation eines Elektrorollstuhls hilft. "Spastiker zum Beispiel können ihre Bewegungen nicht genügend kontrollieren, um einen Elektrorollstuhl zu bedienen. Unfälle sind bei handelsüblichen Geräten vorprogrammiert", sagt KriegBrückner.

Fahrassistent hilft beim Navigieren

Der Professor setzt sich in den "Rolland". "Ich habe jetzt alle Zusatzsysteme ausgeschaltet." Er schiebt den Steuerhebel nur leicht nach vorne, schon beschleunigt das Gefährt mit einem Ruck. Sofort läßt der Mann den Hebel los. "Rolland" bremst so scharf, daß der Oberkörper seines Fahrers nach vorne geworfen wird. "Ich kann meinen Körper aus eigener Kraft gerade halten. Schwerbehinderte haben diese Fähigkeit meist nicht. So ein Ruck kann diese Menschen aus dem Rollstuhl werfen", kommentiert er.

Krieg-Brückner schaltet den Fahrassistenten ein und gibt Vollgas. Der Rollstuhl setzt sich langsam in Bewegung und beschleunigt gleichmäßig. Jetzt steuert der Professor auf die Wand zu. Automatisch verlangsamt sich die Fahrt. Kurz vor dem Hindernis kommt der Rollstuhl automatisch zum Stehen.

"Der Computer gleicht automatisch die ungewollten Befehle aus und macht die Fahrt gleichmäßig", sagt Krieg-Brückner. Die Technik, die für den Fahrassistenten nötig ist, sei leicht an jedem handelsüblichen Elektrorollstuhl anzubringen, so Krieg-Brückner. Das Bremer Institut arbeitet mit der Firma Meyra zusammen, dem größten Hersteller von Rollstühlen in Deutschland. Hier ist man optimistisch, was den Praxiseinsatz der Entwicklungen angeht.

"Gute Marktchancen sind vor allem für den Fahrassistenten zu erwarten", so Hans-Joachim Wahlen, zuständig für die Technik bei Meyra. Ungefähr 1000 bis 2000 Mark mehr würde ein Elektrorollstuhl kosten, der mit dieser Sondersteuerung ausgestattet sei. Allerdings könne das System erst in der Praxis zum Einsatz kommen, wenn die Forschung ganz abgeschlossen sei.

Bild

Soll Mobilität auch für Schwerbehinderte ermöglichen: Professor Bernd Krieg-Brückner führt den "Rolland" vor. -FOTO: BRODBACK

 
   
Autor: Tina Brodback
 
  Raumkognition 
Zuletzt geändert am: 7. März 2002   impressum